Eine verschlüsselte Zielgruppe- Frauen als Türöffner für Integrationsprozesse

Frauen stellen beim Integrationsprozess eine vulnerable Zielgruppe dar und benötigen viel Aufmerksamkeit. Aufgrund eines anderen Rollenverständnisses und kultureller Unterschiede gelingt die aktive Einbindung der geflüchteten Frauen in die deutsche Arbeitswelt sowie in den privaten Alltag außerhalb der eigenen vier Wände nur schwer.

Nicola Ghallat, die selbst vier Jahre im Ausland gelebt hat und bereits viele Jahre lang mit Migranten arbeitet, weiß, dass für die geflüchteten Frauen das Familienleben als Ehefrau und Mutter im Zentrum steht. „Sie definieren sich über Vertrauen und Zugehörigkeit, die Selbstverwirklichung und Befriedigung eigener Bedürfnisse hat für sie keine bzw. eine geringe Bedeutung.“ Sie selbst lebte für vier Jahre in Ägypten sowie Tunesien und versteht die Denkweise vieler Frauen. „Durch die klare Rollenverteilung und die mangelnden Deutschkenntnisse wird das niedrige Selbstwertgefühl der Frauen verstärkt. Die Frauen leben hier häufig isoliert unter ihresgleichen.“ Als Sprachohr vertritt Nicola Ghallat die Interessen der Frauen und stellt Verbindungen zu Vereinen und Kooperationspartnern her.

Aufgrund der Sensibilität dieser Zielgruppe und der Vielschichtigkeit der Integrationsherausforderungen hat sich das Bundesprojekt „Willkommen im Sport“ Ende 2016 das Ziel gesetzt, einen besonderen Fokus auf die Zusammenarbeit mit geflüchteten Frauen zu legen. „Willkommen im Sport“ ist ein Projekt, das sich zum Ziel gesetzt hat, Geflüchtete in Deutschland im Sinne einer Willkommenskultur an Sport- und Bewegungsangebote heranzuführen, wird auch dieses Jahr vom DOSB in der Zusammenarbeit mit seinen Mitgliedsorganisationen umgesetzt. Mit Hilfe einer zuverlässigen Förderung durch die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Staatsministerin Annette Widmann-Mauz unterstützt der DOSB mit dem Projekt „Willkommen im Sport“ Sportverbände und -vereine, die besondere Sport- und Bewegungsangebote für geflüchtete Menschen in Deutschland planen, organisieren und umsetzen. Obwohl der Prozess bei diesen sensiblen Personen sehr aufwendig und betreuungsintensiv ist, können die Frauen als Schlüsselrolle für weitere Integrationsentwicklungen gesehen werden.

„Die Frauen bilden den Mittelpunkt der Familien. Sie können durch ihre eigenen Aktivitäten wichtige Brücken zu ihren Kindern sowie anderen Frauen bauen. Als Vorbilder vermitteln sie wichtige Werte, bauen Netzwerke auf und agieren als Multiplikatorinnen, um die Integration anderer Geflüchteter voranzutreiben“, erläutert Nicola Ghallat.

„Diese Besonderheiten erfordern für die Projektbeteiligten und Kooperationspartner im Alltag viel Zeit, Geduld und vor allem „Fingerspitzengefühl“. Anders als deutsche Frauen definieren sich die Flüchtlingsfrauen hauptsächlich über ein Vertrauensgefühl und Zugehörigkeit. Daher ist es wichtig, eine Bezugsperson zu schaffen, welche den persönlichen Kontakt mit den Frauen pflegt und sie von einer Entwicklungsstufe zur nächsten begleitet“, erklärt Anabell Westrich, die bereits seit über einem Jahr in der Stabsstelle „Integration und Teilhabe“ beschäftigt ist. „Um die Migrantinnen für Angebote zu gewinnen, ist eine Kinderbetreuung in dem Zeitraum der Abwesenheit unabdingbar. Daher und um den Aufwand der Reise möglichst gering zu halten, ist es ratsam, Angebotsräumlichkeiten zu suchen, die wohnortnah und einfach zu erreichen sind. Abgeschirmte und geschützte Areale sowie weibliche Trainer und Betreuer sind notwendig, damit sich die Frauen wohlfühlen und ihr Kopftuch ablegen können.“

Bereits die kurze Ausführung zeigt, wie komplex und langwierig die ersten Schritte sind, um das nötige Vertrauen zu erlangen und zu erreichen, dass geschaffene Maßnahmen überhaupt erst wahrgenommen werden.

Eine der größten Herausforderungen im gesamten Verlauf ist die Vermittlung eines Verständnisses für Sport, Bewegung, das damit einhergehende Verbands- und Vereinswesen sowie die Grundzüge eines gesunden Lebensstils. „Bei der Zusammenarbeit mit Migrantinnen muss bewusst sein, dass der Großteil noch nie Sport betrieben, sich in der Heimat völlig anders ernährt und noch nichts von einem Verein gehört hat. Sie nehmen nach ihrer Ankunft in Deutschland häufig schnell zu und fühlen sich körperlich unwohl. Diese Voraussetzungen erfordern ein Feingefühl, Bedürfnisse durch genaues Zuhören und Abfragen herauszufiltern und daraus resultierend individuelle Angebote zu schaffen“, weiß Anabell Westrich.

„Besonders nach der Flüchtlingswelle wurden in diesem Zusammenhang sehr viele Fahrradlernkurse und Schwimmkurse angeboten, da die Frauen diese Tätigkeiten in ihrer Heimat nie gelernt hatten. Beliebt ist generell alles mit Musik. Die Frauen lieben es, zu tanzen! Kurse wie z.B. Zumba, Bauchtanz oder auch Wirbelsäulengymnastik werden besonders gut angenommen“, berichtet Nicola Ghallat aus eigener Erfahrung. Denn auch sie selbst betreut in ihrer Freizeit eine Frauengruppe aus Saarbrücken, mit der sie Sportangebote, aber auch über den Sport hinaus z.B. Discoabende veranstaltet.

Der Integrationsprozess der Frauen mit Hilfe des Sports verläuft sehr langsam progressiv. Durch anfängliche Schnupperangebote unter sich sollen die Frauen niederschwellig an einen gesunden Lebensstil mit Bewegung herangeführt werden. Hierfür werden in Kooperation mit verschiedenen Partnern und Trainern individuelle Angebote konzipiert, die nach den Wünschen der Frauen ausgerichtet werden. „Dieser Schritt ist essenziell, um Kleingruppen von Frauen an verschiedenen Standorten im Saarland über einen längeren Zeitraum zu sensibilisieren und zu etablieren. Erst wenn das Vertrauen der Gruppe gewonnen und eine Freude an Bewegung entfacht wurde, können nächste Schritte eingeleitet werden“, betont Anabell Westrich.

Das langfristige Ziel von „Willkommen im Sport“ ist es, Geflüchtete für den Sport zu begeistern und durch gezielte Bewegungsangebote den Integrationsprozess zu unterstützen. Hierzu sollen besonders Vereine involviert werden, da sie über den Sport hinaus auch als soziale Anlaufstelle wirken und grundlegende Werte wie Fairness und Toleranz vermitteln. Um jedoch eine Kooperation mit Vereinen eingehen zu können, müssen den Flüchtlingen und Migranten erst die Strukturen des deutschen Verbands- und Vereinswesen nahe gebracht werden. Auch Nicola Ghallat weiß, dass den meisten Geflüchteten der gemeinnützige Charakter und die übergeordneten Vorteile einer Vereinsmitgliedschaft völlig fremd sind. „Viele kennen den Unterschied zwischen Verein und Fitnessstudio nicht und haben Angst vor unvorhergesehenen Kosten, die sie nicht tragen können.“

Derzeit koordiniert „Willkommen im Sport“ vier feste sowie weitere aufkommende Frauengruppen, die im gesamten Saarland verteilt sind. Um eine entsprechende Betreuung und Kommunikation innerhalb und außerhalb der Gruppen zu gewährleisten, sind drei dezentrale Mitarbeiterinnen mit und ohne Migrationshintergrund zuständig. In regelmäßigen Jour Fixes werden beim LSVS mit den Mitarbeitern der Geschäftsstelle sowie den Mitarbeitern der dezentralen Standorte Konzepte erstellt, Gespräche über Entwicklungen geführt und weitere Projekte geplant. Auch ein regelmäßiger Austausch mit den Frauen ist essenziell, um Schwachstellen aufzudecken und den Entwicklungsstand stetig voranzutreiben.

Zukünftig sollen in Zusammenarbeit mit dem Kneippbund-Saar e.V. besonders engagierte Teilnehmerinnen geschult und zu Multiplikatorinnen ausgebildet werden, um die Gruppen mit einem jeweiligen Ansprechpartner ihrer Reihen noch vertrauter zu gestalten und den Frauen mögliche Positiv-Entwicklungen aufzuzeigen.

In den nächsten Ausgaben werden Projekte und Veranstaltungen vorgestellt, um zu zeigen, wie die tägliche Arbeit mit den Frauen aussieht. „Wir möchten Praxis-Einblicke geben, unsere Fortschritte, aber auch Herausforderungen teilen und sensibilisieren, wie schwierig es vor allem für geflüchtete Frauen ist, sich in einer fremden Kultur zurechtzufinden und sich für neue Erfahrungen zu öffnen“, unterstreicht Anabell Westrich stellvertretend für die beim LSVS angesiedelte Stabsstelle „Integration und Teilhabe“.